Was nach der Reise geschah

Aus Annes Tagebuch

Mittwoch 8.2.84
Ja, da waren wir schneller in Frankfurt auf dem Flughafen als wir begreifen konnten. Schon ein komisches Gefühl wieder „daheim“ zu sein.
Man kennt alles und trotzdem ist alles fremd. Die Menschen haben hier gelebt wie seit geraumer Zeit, wir waren halt nicht da.
Meine Mutter, Ekkes Eltern und unsere Freunde haben sich wahnsinnig gefreut.
Gleich am Samstag die ersten gemütlichen Bilder gezeigt. Fast glaube ich, Ekke + ich sind am meisten verändert. Es fällt uns schwer jetzt alles so hinzunehmen und uns einzugliedern wie vorher.

Nur gut, dass alles höchstwahrscheinlich mit Freiburg klappt – es wird Zeit.
Unser richtiges Zuhause kann nur unsere eigene Bude werden, das ist jetzt klar.
So setzt gerade Ekke alle seine Kraft + Hoffnung auf das Studium und „Büsingen“. Hoffentlich geht es so wie wir es uns wünschen würden (aber das haben wir auf der Reise gelernt) es geht natürlich so wie es richtig + wichtig sein wird!
Vielleicht war die Zeit und diese Reise wirklich das einzig Richtige für uns (Sonst hätte es ja auch nicht geklappt).
Gottvertrauen ist etwas, was wir neu gelernt und begriffen haben. Die Dinge gehen anyway so wie sie laufen müssen – mit Ausnahme der Persönlichkeiten – aber diese philosophische Frage ist noch nicht bei mir ausgreift.
Ich/wir müssen uns noch was geeignetes einfallen lassen, wie wir unsere englischen Sprachkenntnisse bei behalten.

Anmerkung: Es beeindruckt mich immer wieder, mit welcher Klarheit, Anne kurz vor ihrem 20. Geburtstag, all diese großen Linien im Alltäglichen erkannt hatte.
Ich selber fiel nach der Reise in ein dramatisches tiefes Loch, aus dem ich ohne Annes Hilfe wohl nicht wieder heraus gefunden hätte. Das Deutschland, zu dem ich mich entschieden hatte, war mir doch sehr fremd, auszuwandern war aber auf der anderen Seite eben auch keine Option.
Da meine Studienbemühungen für mich überraschend, aber im Rückblick nachvollziehbar scheiterten, lenkte sich mein Blick auf eine Art der „inneren Auswanderung“. Büsingen war da nur noch ein Chiffre, ich besuchte den Ort bis heute kein einzige Mal. Die „Auswanderung“ fand erst nach Freiburg, dann 1986/87 nach Norddeutschland statt.
Noch 1984 begann unser politisches Engagement bei den Grünen. Anne gründete im Kreisverband Breisgau-Hochschwarzwald Ortsverbände wie am Fließband, ich turnte über die chaotischen Landes- und Bundesversammlungen, es sollte aber bis 2008 dauern bis ich ein politisches Mandat errang (1996 schlitterte ich denkbar knapp vorbei) und auch Anne zog 2011 in den Ortsrat in der Hildesheimer Nordstadt ein.
Anne meisterte ihr Studium der Politikwissenschaften und Germanistik ohne größere Probleme. Meine berufliche Orientierung blieb außerordentlich schwierig und führte mich erst ab 1989 auf ein solides Fundament. Allerdings hatte ich schon 1984 begonnen mich mit Computern zu beschäftigen. Im Abverkauf konnte ich einen Commodore VC-20 mit etwas Zubehör erwerben, der die Grundlage für meinen späteren Erfolg sein sollte. Anne ertrug mein inneres und das äußere Chaos mit stoischem Gleichmut, sie trug mich hindurch und sah mich als ihr Schicksal an, so wie sie meines war. Heirat, Kinder, Umzüge, einige Reisen, zuletzt häufiger in die Haute Provence nach Südfrankreich, zu Sonnenfinsternissen und einige Tage nach Rom, aber nie wieder eine so lange Reise, prägten unser Leben. Trotz vielfältiger Schwierigkeiten waren wir glücklich und blieben das auch während Annes Krebserkrankung und ihrem Sterben, unsere Liebe war stärker als der Tod. Grundlage dafür war sicher diese lange Reise, dass diese wiederum funktioniert hatte, lag an der auch schwierigen aber glücklichen Zeit vor der Reise, in der ich im Zivildienst und Anne im Abitur stand und unsere gemeinsame Zeit auf die Wochenenden und den Urlaub konzentriert war.

Was bleiben für Wahrheiten? Wer reist, nimmt sich selber immer mit. Und wer reist muss irgendwann ankommen.

Hätte ich, hätten wir etwas anders machen sollen im Leben? Wenig. Wir hätten noch mutiger sein können, noch ehrlicher, doch Liebe bedeutet auch, das Große über das Kleine zu stellen.

Welch ein Verlust, dass Anne und ich dieses Projekt nicht gemeinsam machen konnten. Ich danke es ihr so sehr, dass sie eine so fleißige Tagebuchschreiberin war, so dass ich tagesgenau unsere äußere und innere Reise rekonstruieren konnte.

Der von mir schon häufiger zitierte Wilhelm Busch, schrieb den Reim (Quelle):

Eins, zwei, drei im Sauseschritt,
läuft die Zeit, wir laufen mit.

Und von Hugo Hartung wurde der Text dann um einige Zeilen erweitert (diese werden sehr oft, aber fälschlicherweise ebenfalls Wilhelm Busch zugeschrieben):

Schaffen, schuften, werden älter,
träger, müder und auch kälter.

Bis auf einmal man erkennt,
dass das Leben geht zu End’.

Viel zu spät begreifen viele,
die versäumten Lebensziele:

Freude, Schönheit der Natur,
Gesundheit, Reisen und Kultur.

Darum, Mensch, sei zeitig weise!
Höchste Zeit ist’s! Reise, reise!

Und damit möchte ich diesen Reiseblog schließen.

Zu den Fotos. Gibt man einem Fremden die Kamera in die Hand, muss man mit dem Ergebnis leben. Das erste Bild zeigt Anne und mich, sowie meine beiden Großmütter (links mütterliche, mittig väterliche Seite) am Tag unseres Umzugs Ende Februar 1984 von Hessen nach Horben bei Freiburg im Breisgau.
Das erste der folgenden Fotos zeigt Anne und mich beim Schreiben und Setzen des Wahlprogrammes für die Grünen zur Kommunalwahl 1984. Die beiden anderen Fotos zeigen uns 5 Jahre später in Hamburg. Anne auf dem Weg zu ihrem Magister der Politikwissenschaften am Familiensekretär und ich, in der Umschulung zum Kommunkationselektroniker, Turbo Pascal entdeckend, mit meinem zweiten, einem MS-DOS verwendenden und IBM-AT kompatiblen, Computer.

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